Mit 110 macht sie sich einen Reim auf die Natur

Griesheim. Wenn in der Apotheke ein Präparat gemischt wird, besteht das meist aus mehreren Ingredienzen, die im Zusammenspiel der Stoffe eine heilende Wirksamkeit entfalten. So ist es auch mit dem Rezept für ein langes Leben. Es beinhaltet viele Komponenten. Die ehemalige Apothekerin Helene Axt aus Griesheim hat sie für sich persönlich gefunden: gesunde Ernährung, Sport treiben, soziale Kontakte pflegen „und am besten nichts übertreiben. Das Maß muss stimmen“, sagt die 110-Jährige. „Ob sie die älteste Bürgerinnen Hessens ist, können wir nicht genau ermitteln“, heiß es auf Anfrage aus der Hessischen Staatskanzlei.

Helene Axt singt gern. In der Senioreneinrichtung stimmt sie gemeinsam mit anderen im Kursana-Chor „Herbstblume“ fröhliche Melodien an. Das Singen und die Musik ziehen sich wie ein roter Faden durchs Leben. Ihre Leidenschaft für Volkslieder und auch moderne Songs entdeckte sie bereits im Kinderchor, später war sie Mitglied im Kirchenchor der Darmstädter Paulusgemeinde sowie im Chor des Staatstheaters. Vor 103 Jahren, als Helene Axt sieben war, konnten Frauen am 19.1.1919 in Deutschland auf Reichsebene erstmals wählen und gewählt werden, doch „ich durfte weder Violine noch Cello spielen. Das war mein Wunsch, doch für Mädchen ist das Klavier besser geeignet, hieß es damals, das habe dich dann auch gelernt“, sagt die Apothekerin.
Mit 110 sitzt Griesheims älteste Bürgerin zwar im Rollstuhl und doch steht sie mit beiden Beinen fest im Leben. Im Kursana Domizil nimmt sie trotz ihrer Schwerhörigkeit und Sehbehinderung regelmäßig an dem vielseitigen Beschäftigungsprogramm teil, „weil es Spaß macht und man immer mit netten Leute sprechen kann“. Montags kommt sie bei der Sitzgymnastik in Schwung und manchmal schreibt sie Gedichte etwa von der Natur, den Wiesen und Feldern oder dem Geruch der Wildkräuter. Die Verse entstehen in Ihren Gedanken und werden von einer ihrer Betreuerinnen im Team des Kursana Domizils aufgeschrieben. Die Feinmotorik der Finger erlaubt es ihr nach mehr als 100 Jahren nicht mehr, den Stift zu führen. Gereimt hat sie bereits als Schülerin, sie habe es irgendwie geschafft, unter der Schulbank zu schreiben und trotzdem dem Unterricht zu folgen. Vor 100 Jahren hieß das aber noch nicht Multitasking.
„Man braucht auch Glück, um so alt zu werden“, sagt Helene Axt und denkt an ihr langes Berufsleben, für das sie – damals sehr selbstbewusst – nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs das Fundament gelegt hat. „Ich war als Frau ganz schön mutig“, sagt sie. Nach dem Studium der Pharmazie eröffnete sie Mitte der 1940er Jahre in Darmstadt eine Apotheke, der sie den Namen ihrer Lieblingsblume gab: Sonnen-Apotheke. Dort arbeitete sie rund fünf Jahrzehnte lang selbständig mit ihren Angestellten. Zu einer ihrer Kolleginnen hat sich eine freundschaftliche Beziehung entwickelt. Die 90-jährige Dame besucht sie oft im Kursana Domizil.
„Da hatte ich ein Riesen-Glück“, sagt Helene Axt mit Blick auf den knapp 80 Jahre zurückliegenden Bombenangriff auf Darmstadt, bei dem es Tote und Verletzte gab. Das komplette Gebäude, in dem sie wohnte, sei zerstört worden. „Ich hatte das Haus ein paar Minuten vorher verlassen.“ Ihr Bruder Fritz ist im Krieg gefallen. Alle aus ihrer Familie und ebenso langjährige Freunde sind gestorben. „Wissen sie, wenn man so alt wird, geht man oft auf Beerdigungen. Ich habe viele Verluste hinnehmen müssen, aber immer wieder nach vorn geblickt und nicht resigniert.“
Woher kommen Energie und Zuversicht? „Aus dem Glauben“, sagt Helene Axt. Deren Vater Evangelischer Pfarrer und Oberstudienrat war. „Wir sind alle Geschöpfe Gottes, aber der Mensch zählt, nicht die Religion“, betont sie. Gibt es mit 110 noch Wünsche? „Ganz klar Gesundheit.“ Doch die Apothekerin schreibt auf ihr Rezept fürs Altwerden auch die Tugend Bescheidenheit: „Man muss mit dem zufrieden sein, was man kriegt“, sagt Helene Axt.