Roswitha Spengler (links) und Hildegard Schubart haben sich viel zu erzählen und immer wieder fallen den beiden Frauen alte Geschichten ein.

 
05.04.2022

Ein Wiedersehen nach mehr als 80 Jahren

Kriftel. Erinnerungen sind wie Teile eines großen Puzzles. Wer sie an der richtigen Stelle platziert, erhält ein buntes Bild voller Geschichten, die zueinander passen. Im Alter werden ganz unterschiedliche Momente aus dem Leben wieder lebendig, wenn es Impulse wie etwa einen bestimmten Geruch, eine Szene oder ein Lied gibt. Manchmal helfen auch alte Bekannte beim Zusammensetzen der Puzzle-Teile. So ist es bei Hildegard Schubart und Roswitha Spengler. Die beiden Kriftelerinnen unterstützen sich gegenseitig dabei, die Bilder ihrer Kindheit und Jugend wieder aufleben zu lassen. Im Kursana Domizil am Freizeitpark haben die beiden ein neues Zuhause gefunden und sich zufällig getroffen – mehr als 80 Jahre nach der ersten Begegnung im selben Wohngebiet ihres Heimatortes.

Das Treffen der beiden Frauen bei einer Tasse Kaffee in der Bibliothek des Kursana Domizils gleicht einer Zeitreise. Ständig spielen sich die beiden im Gespräch die Bälle zu. Die Erinnerungen sind wie die Steine eines Domino-Spiels. Die Augenzahl stimmt, in den Erzählungen gibt es Anknüpfungspunkte, die zusammenpassen und sich zu einer langen Kette formen. Aus Einzelteilen entsteht etwas großes Ganzes. Roswitha Spengler und Hildegard Schubart legen im Gespräch nach und nach immer mehr Teile zweier Biografien in eine Schnittmenge, die einen gemeinsamen Lebensweg beschreibt.
„Weißt Du noch die Marianne und der Wolfgang. Ein ungleiches Paar, ich hab´ nie verstanden, wieso die zusammen waren oder kennst Du noch den Hans, der beim Karneval immer in der Bütt stand?“, fragt die 96-jährige Roswitha Spengler und ihre Freundin Hildegard nickt. „Ich war mit dem Sohn vom Malermeister Welk beim Abschlussball der Tanzschule. Der Hermann hat mich damals zum Erdbeerkuchen eingeladen, doch ich hab´ ihn stehenlassen, ich musste ja zu meiner Mutter, die hätte das sowie nicht erlaubt. Die Waltraud musste Flüchtlinge aus Ostpreußen aufnehmen“, solche Sätze fallen, wenn man sich nach Jahrzehnten wiedersieht und in der Kindheit und Jugend in Hofheim und Kriftel nur einen Steinwurf voneinander entfernt aufgewachsen ist.
Bis zu ihrem neunten Geburtstag hat Roswitha Spengler in Kriftel am westlichen Ortsrand gewohnt und ist dann nach Hofheim gezogen. Hildegard Schubart war im Osten von Hofheim zuhause. Draußen beim Spielen auf den Straßen, Wiesen und Feldern gab es damals keine kommunalen Grenzen und anders als heute auch keine großen Sticheleien zwischen den Nachbarorten, wie etwa der Spruch, der in der Obstbaugemeinde die Runde macht: Das Beste an Hofheim sei der Bus, der nach Kriftel fahre.
„Wir haben oft mit Jungs gespielt und Kohlköpfe vom Feld mitgenommen“, sagt Hildegard Schubart, die später so wie ihr 1999 verstorbener Mann bei den Farbwerken Höchst im Labor Verantwortung übernommen hatte. „Ich bin eine geborene Fritz“, sagt sie und schiebt nach, dass auch sie bei den Farbwerken im Labor gearbeitet habe. „Dort habe ich meinen Mann kennengelernt. Er musste beruflich ins Ausland und so waren wir viele Jahre in Spanien und in Ägypten.“ Auf die Frage, ob sie dort auch gearbeitet habe, schüttelt sie den Kopf und lächelt: „Wir hatten eine schöne Villa und ich war die First Lady.“
Humor haben die beiden Frauen, die so viele Erinnerungen an die schöne Zeit in Hofheim teilen und denen im Gespräch immer wieder neue Geschichten einfallen, die oft mit der Frage „Weißt du noch?“ beginnen. Roswitha Spengler kennt viele Leute in Hofheim. Ihre Familie habe direkt an den Gleisen gewohnt, da ihr Vater Bahnhofsvorsteher gewesen sei. Später habe sie die Poststelle geleitet. Viel zu erzählen haben sich die beiden auch über die berufliche Phase und das Leben mit der Familie. Roswitha Spengler ist ebenfalls verwitwet, hat eine Tochter und eine Enkelin, Hildegard Schubart zwei Söhne und Enkel.
„Ich bin eine Frohnatur und für jeden Spaß zu haben. Mein Kopf ist voller Blödsinn, doch ich habe keine großen Erwartungen, ich nehme das Leben so wie es ist, dann werde ich auch nicht enttäuscht“. Das klingt philosophisch, was Roswitha Spengler sagt und sie ergänzt: „Ich habe Musik im Blut und tanze gern.“
Derzeit werde ihre Stimmung allerdings getrübt, wenn sie die Bilder vom Krieg in der Ukraine sehe. Das erinnere sie an den Zweiten Weltkrieg, als sie bei einem Angriff im Bahnhof Hofheim in ihrem Zimmer im Bett lag und die Kugeln durchs Fenster flogen und über ihren Kopf in der Wand einschlugen. Überhaupt dieser sinnlose Krieg. Der habe ihren Mann, der erst 1949 aus der Gefangenschaft gekommen sei, total verändert. „Er wollte danach von zuhause nicht mehr weg. Wir sind nie in den Urlaub gefahren.“ Für einen Moment verstummt das lebendige Gespräch.
Sie und ihre Freundin Hildegard sind froh, „dass wir uns hier im Kursana Domizil getroffen haben. „Was für ein Zufall“, sagt das „Krifteler Mädsche Roswitha“. „Das kann noch eine schöne Zeit werden.“

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