Im Kursana Domizil werden regelmäßig Geschichten erzählt. Bild: Kursana

 
31.10.2019

Mit Geschichten Menschen berühren

Im Kursana Domizil finden regelmäßig Geschichtsstunden statt.

Gedichte, Geschichten, Geplänkel: Im Kursana Domizil findet alle zwei Wochen eine Geschichtenstunde mit Uta Schlegel-Holzmann statt. Etwa zehn Bewohner nehmen regelmäßig an dem Angebot der Ehrenamtlichen teil. Sie freuen sich zu lauschen, aber auch selbst zu Wort zu kommen.

Zielsicher blättert Uta Schlegel-Holzmann zur nächsten Markierung in ihrem Ordner. „Gedichte“ steht in Handschrift auf der Vorderseite des roten Ringbuches, das unzählige Kopien, beklebte Blätter und handschriftliche Texte enthält. Mit der linken Hand hält sie den Ordner vor sich; die rechte schwebt in der Luft. „Der Sommer heizt den Ofen an“, beginnt Schlegel-Holzmann. „Des isch doch ä schöns Wort, oder?“

Über ihre Halbmondbrille hinweg begegnet ihr Blick dabei zehn Augenpaaren. Nicken, leises Kichern, ein „Ja“ erntet sie als Antwort ebenso wie die Rückfrage „Was?“. Neun Frauen und ein Mann sitzen auf dem Balkon des Kursana Domizils Leinfelden-Echterdingen vor ihr. In Rollstühlen, mit Rollatoren oder gestützt von den Pflegekräften haben sie sich auf den Weg zu dieser Geschichtenstunde gemacht.

Alle zwei Wochen kommt die 78-Jährige ins Kusana Domizil Leinfelden-Echterdingen, um eine Stunde mit den Bewohnern zu verbringen. Sie liest kurze Geschichten, trägt Gedichte vor, erzählt Anekdoten aus dem eigenen Leben, unterhält sich mit den Bewohnern. Mit ihrer offenen Art und dem freundlichen Blick spricht sie alle Teilnehmer der Geschichtenstunde an, gibt ihnen immer wieder Gelegenheit, sich zu äußern. Abwechslungsreich müsse ihr Programm sein, damit jeder etwas davon habe.

Auch schwäbische Mundart darf nicht fehlen. Denn einige Bewohner sind immerhin Schwaben und ihren Dialekt zu hören, regt auch ihre Erinnerung an. „Durch de ganze Flecke dengelts“, rezitiert Uta Schlegel-Holzmann ein schwäbisches Gedicht und schiebt direkt energisch hinterher: „Also ich mag des Wort Flecke für einen Ort.“ Heftig nickend reagiert eine Bewohnerin, sodass ihre langen lockigen Haare über die Schulter fallen: „Ja, ja!“ „Ha ja, gosch in Flecke nei“, eine andere. Und schon entwickelt sich ein Gespräch über Bezeichnungen für den Ortskern und die Stadt, den die Geschichtenerzählerin geschickt mit weiteren Einschüben anfeuert.

Beinahe alle Teilnehmer der Stunde nehmen aktiv teil. Sie nicken, bejahen Fragen, vervollständigen Redewendungen, belohnen Schlegel-Holzmanns Anekdoten aus dem ihrem Leben mit kurzen Erinnerungen aus dem eigenen. Selbst die Bewohnerin, die in ihrem Rollstuhl zu schlafen scheint, reagiert hin und wieder auf die Texte oder auf die Reaktionen der anderen Teilnehmer.

Der einzige Mann in der Runde blickt wie gebannt zur Vorleserin hinauf. Er stützt sich mit den Ellbogen auf den weißen Plastikstuhl, lehnt den Oberkörper etwas nach vorne, als warte er nur darauf, mit einer Erwiderung hervorschnellen zu können. Er lacht, als Schlegel-Holzmann ein Buch über Redewendungen hervorholt und zum Eintrag „ins Fettnäpfchen treten“ kommt. „Ha, no isch’s bassiert“, platzt er endlich heraus.

„Mir ist sehr wichtig, dass jeder zu Wort kommt, der möchte“, betont Schlegel-Holzmann nach der Stunde. Schließlich seien viele Bewohner im Alltag verstummt oder vertrauten ihrem Wortschatz nicht mehr. Umso schöner, wenn gerade diese Menschen sich äußern – selbst kleine Einwürfe oder Gemurmel sind hier willkommene Beiträge. Und davon erntet die 78-Jährige einige.

Begonnen hat sie mit diesem Ehrenamt, als die Einrichtung in Leinfelden-Echterdingen vor etwa zwölf Jahren geöffnet hat. Die Rentnerin hat erfahren, dass Ehrenamtliche gesucht werden und sich schnell bereit erklärt. „Vorlesen und reden, das ist mein Talent“, habe sie den Verantwortlichen damals gesagt. Kurz darauf war die Geschichtenstunde geboren.

Nun steht Uta Schlegel-Holzmann vor den zehn Bewohnern auf dem Balkon im Hinterhof. Unter ihr plätschert ein kleiner Bach durch Gräser und Blumen. Passend zu den Temperaturen hat die pensionierte Journalistin heute auch einige Texte über das Wetter im Gepäck. Ganz wichtig ist ihr, sich immer gut auf die Stunde vorzubereiten. Trotzdem bleibt sie währenddessen aber spontan. Als sie gerade eine Geschichte über einen Geizhals zitiert, hält sie plötzlich inne. Sie richtet ihren Blick auf und lässt ihn über jeden Bewohner gleiten. „Ich werde ja immer großzügiger“, scherzt sie. „Passen Sie auf, dann schenke ich Ihnen heute noch mein Häusle“, sagt sie lachend. Und alle lachen mit.

Zur Übersicht