Evelyn Deichsel freut sich darüber, dass ihre Mutter Gisela Schmidt-Galster heute noch mobil mit dem Rollator im Kursana Domizil Oststeinbek unterwegs ist. ©Kursana

 
22.09.2017

„Es braucht Mut, Freiheit zu wagen“

Das Kursana Domizil Oststeinbek informierte über das Projekt „Werdenfelser Weg“ und seinen neuen Umgang mit freiheitsentziehenden Maßnahmen in der Pflege.

Zwei Dutzend Angehörige waren der Einladung des Kursana Domizils Oststeinbek gefolgt, um sich über einen neuen Umgang der Senioreneinrichtung mit freiheitsentziehenden Maßnahmen in der Pflege zu informieren. Seit Anfang des Jahres werden die Mitarbeiter von Frank Ulrich, Leiter des Arbeitskreises Hamburger Verfahrenspfleger,  nach dem Projekt „Werdenfelser Weg“ geschult, um bei sturzgefährdeten Senioren Alternativen zu Bettgittern, Bauchgurten und Vorsatztischen zu entwickeln.
„Angehörige stehen diesen Maßnahmen häufig positiv gegenüber, weil sie glauben, dass sie alte Menschen vor Stürzen bewahren können“, erklärte Frank Ulrich. „Dabei zeigen Studien, dass das Gegenteil der Fall ist: Wer rastet, der rostet. Durch die Einschränkung der Beweglichkeit und den damit einhergehenden Abbau der Muskulatur steigt bei Betroffenen sogar das Sturzrisiko. Anstelle starren Sicherheitsdenkens sollten alle Beteiligten im Einzelfall überlegen, wie die Freiheit und die Sicherheit des Betroffenen gewährleistet werden können. Wir wollen ein Bewusstsein für dieses Umdenken schaffen. Denn es braucht Mut, Freiheit zu wagen.“
Schon der Einsatz eines Bettgitters ist nur auf Genehmigung des Betreuungsgerichts möglich. Wurden im Jahr 2000 bundesweit noch rund 40.000 Anträge auf freiheitsentziehende Maßnahmen gestellt, schnellte die Zahl der Anträge 2009 auf 106.000 Anträge rasant in die Höhe. 94 Prozent von ihnen wurden genehmigt, so dass beispielsweise in Hamburg 2006 schon ein Viertel der Heimbewohner von den Maßnahmen betroffen war. Ausgehend von Garmisch-Partenkirchen entstand 2007 als Gegenbewegung der „Werdenfelser Weg“. Seit speziell ausgebildete Verfahrenspfleger als Anwalt der Betroffenen vor Ort untersuchen, ob wirklich alle Alternativen  ausgeschöpft worden sind, sind die Antragzahlen wieder stark rückläufig.
„Nachdem meine Mutter 2017 zwei Brüche und einen Schlaganfall erlitten hat, war sie unsicher auf den Beinen. Im Krankenhaus kam ein Bettgitter zum Einsatz. Als ich den Antrag bei Gericht eingereicht hatte, kamen mir schon Zweifel. Denn meine Mutter versuchte noch im Krankenhaus, über das Gitter zu klettern“, erzählte Evelyn Deichsel (66), deren Mutter Gisela Schmidt-Galster (89) seit 2013 im Kursana Domizil Oststeinbek lebt. Zusammen mit der Stormarner Verfahrenspflegerin Stephanie Lohmann, Direktorin Kerstin Buchholz, Pflegedienstleiterin Gabriele Schuhmann und Fachkräften des Wohnbereichs wurde vor Ort überlegt, wie die Sturzgefahr für die demenziell erkrankte Seniorin gemindert werden kann.
Das Bett der Bewohnerin wurde gedreht, damit die gewohnheitsmäßige Ausstiegsseite jetzt zur Wand steht. Nachts bleibt eine Nachttischlampe angeschaltet, und Gisela Schmidt-Galster bekommt einen Toilettenstuhl direkt ans Bett, um Wege zu vermeiden. Zu allen Ruhezeiten wird eine Kontaktmatte mit integriertem Schwesternruf vor das Bett gelegt, und tagsüber trägt die Seniorin „Stoppersocken“, die mehr Halt geben. „Ich war dankbar für die Beratung und dafür, dass für meine Mutter alle Alternativen bereitgestellt wurden“, sagte Evelyn Deichsel. „Denn heute ist sie wieder am Rollator mobil und zufrieden.“
Das Domizil hat mittlerweile einen „Walker“ angeschafft, mit dessen Hilfe auch stark eingeschränkte Bewohner sicher mobil bleiben. Mit Niedrigbetten und Bodenmatten können gefährdete Senioren davor geschützt werden, aus dem Bett zu fallen. Oft kommen aber auch kostengünstige „Schwimmnudeln“ als Matratzenranderhöhung zum Einsatz. „Es ist schön zu erleben, wie einfallsreich und engagiert unsere Mitarbeiterinnen dabei sind, Alternativen zu den Fixierungen zu entwickeln“, freute sich Direktorin Kerstin Buchholz, der es am Herzen liegt, die Angehörigen beim Umdenkprozess in ihrer Einrichtung mit ins Boot zu holen. „Am Ende profitieren alle Seiten davon, wenn wir mehr Freiheit wagen.“

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