Durch das Coaching von Demenzexpertin Sandra Eisenberg (l.) ist das Team in der Kursana Villa Reinbek enger zusammengerückt. ©Kursana

 
27.10.2022

„Unordnung ist völlig in Ordnung“

Demenzexpertin Sandra Eisenberg begleitet seit eineinhalb Jahren das Team in der Kursana Villa Reinbek, um das Leben für Bewohner „demenzfreundlicher“ zu gestalten. Bei einem Infoabend erfuhren Angehörige, wie sich die Kultur des Miteinanders im Haus weiterentwickelt hat.

Auf dem Wohnbereich für demenziell erkrankte Senioren in der Kursana Villa Reinbek gehört das Durcheinander dazu: Auf dem Tisch liegt eine Puppe, auf einem Sessel hat jemand ein Märchenbuch vergessen. Ein Bewohner läuft vormittags im Morgenmantel auf dem Flur herum, ein anderer trägt zwei verschiedene Hausschuhe. Und wenn jemandem die Augen zufallen, schläft er dort, wo er gerade sitzt. „Bei uns stehen das Wohlbefinden und die individuellen Bedürfnisse der Bewohner im Mittelpunkt, deshalb ist auch Unordnung völlig in Ordnung“, sagt Pflegedienstleiterin Corinna Pieper. „Solange sie sich selbst oder andere nicht gefährden, versuchen wir das Verhalten unserer Senioren möglichst wenig zu korrigieren.“ Um die Lebensqualität betroffener Bewohner und die Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter zu verbessern, wird das Team seit eineinhalb Jahren von Demenzexpertin Sandra Eisenberg begleitet. Auf einem Infoabend stellte die Diplom-Pflegewirtin und Leiterin des Fachbereichs Gerontopsychiatrie an der Hamburger Diakonischen Fort- und Weiterbildungsakademie jetzt den Angehörigen die Leitlinien für das Miteinander auf dem Demenzwohnbereich vor.

„Gerade in Zeiten der Pandemie ist es sehr ungewöhnlich, dass sich ein komplettes Team aus Pflege und Betreuung gemeinsam für Konzeptarbeit an einen Tisch setzt. Dieses Engagement hat mich sehr beeindruckt“, sagt Sandra Eisenberg, die bisher einmal monatlich in der Villa zu Gast war und ihre Begleitung im kommenden Jahr vierteljährlich fortsetzen wird. „Um eine wertschätzende Atmosphäre für demenziell erkrankte Bewohner zu schaffen, braucht es Toleranz im ganzen Haus. Es setzt Arbeit an der eigenen Haltung voraus, um die Menschen so sein zu lassen, wie sie im jeweiligen Moment gerade sind. Und es ist wichtig, bei herausforderndem Verhalten nicht mit ihnen zu diskutieren, sondern sie um- und abzulenken. Gute Mitarbeiter in Pflege und Betreuung sind echte Ablenkungskünstler.“

Zwei Tage hat Sandra Eisenberg allein damit verbracht, das Verhalten des Teams auf dem Demenzwohnbereich zu beobachten und zu analysieren. In Schulungen, Gesprächen und Fallbesprechungen wurden neue Herangehensweisen diskutiert und erprobt. „Heute herrscht bei den Mitarbeitern eine hohe fachliche Kompetenz, die mit einer Grundgelassenheit einhergeht: So ist es beispielsweise völlig normal, einem Bewohner immer wieder aufs Neue freundlich einen guten Morgen zu wünschen, wenn er sich nicht daran erinnern kann, dass sich beide bereits gesehen haben“, sagt Sandra Eisenberg

Zudem wurden Räumlichkeiten renoviert, verwirrende Deko entfernt und alles einfacher und klarer strukturiert gestaltet. Mitarbeiter aus Pflege und sozialer Betreuung sind als interdisziplinäre Teams zusammengerückt, ihre Übergaben gewährleisten einen besseren Informationsfluss. Umstrukturierungen machen möglich, dass Gemeinschaft wirklich gelebt werden kann: Die demenziell erkrankten Senioren nehmen ihre Mahlzeiten gemeinsam in familiärer Atmosphäre an „therapeutischen Tischen“ ein, an denen sie entsprechend ihren Fähigkeiten in ihrer Eigenständigkeit unterstützt werden. Sie decken die Tische zusammen mit den Mitarbeitern ein und übernehmen dreimal wöchentlich im Rahmen der sozialen Betreuung hauswirtschaftliche Tätigkeiten.

Für die Angehörigen ist es vielleicht noch gewöhnungsbedürftig, dass die Kleidungsstücke eines Bewohners nicht zusammenpassen oder eine Bluse einen Fleck hat. Corinna Pieper lud sie deshalb dazu ein, auch einmal an Mahlzeiten oder Aktivitäten teilzunehmen, um sich selbst ein Bild von der demenzfreundlichen Atmosphäre zu machen und sich vom Sinn der „Hausunordnung“ zu überzeugen.

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