Siegfried Lange sagt, er besucht jeden Tag "seine Elli".

 
11.10.2018

Gemeinsam den Moment erleben

Otzberg. Selbstverständlich hatten sie noch große Pläne, für die Zeit, die sich Ruhestand und Rentenalter nennt. Vielleicht gemeinsam die Tochter in Amerika besuchen, einfach mal für ein paar Tage in die Berge fahren oder im Stadion ein Fußballspiel von Eintracht Frankfurt miterleben. Doch das alles sind Wünsche, die Siegfried Lange und Elisabeth Kuhn nicht mehr umsetzen können. Das Alter und die Krankheit, die immer mehr Senioren aufgrund der Vergesslichkeit und zunehmender Unselbständigkeit in ihrer Persönlichkeit stark verändert, haben die Pläne der beiden von einem schönen Lebensabend mit vielen Reisen zunichte gemacht.

Demenz ist ein Wort, das Siegfried Lange nicht über die Lippen kommt, doch er hat längst akzeptiert, dass „meine Elli“, wie er seine Lebenspartnerin liebevoll nennt, davon stark betroffen ist. Trotzdem oder gerade deswegen fährt Siegfried Lange fast jeden Tag mit der Odenwaldbahn von Reinheim nach Lengfeld in das Kursana Domizil Am Hergert, um mit „seiner Elli“ ein paar Stunden zu verbringen. „Abfahrt Reinheim 14.06 Uhr, Heimreise ab Lengfeld 17.44 Uhr“, sagt der 76-Jährige, der „seiner Frau“ Zug um Zug näherkommt.


Auch wenn das Paar nicht mehr gemeinsam zu Reisen aufbrechen kann und selbst kleine Ausflüge seltener geworden sind, so hat die Krankheit auch etwas Gutes gebracht: Mehr Zeit und mehr Aufmerksamkeit. Die gemeinsamen Momente werden bewusster erlebt. Die Begegnungen der beiden, zu der auch die mit der Demenz-Erkrankung einhergehende Sprachlosigkeit von „Elli“ gehört, hat eine neue Qualität erhalten. Gern sitzt das Paar im Restaurant des Kursana Domizils, im Garten oder in Elisabeth Kuhns Wohnung zusammen. Sie hören Musik, Siggi ruft die gemeinsamen Erlebnisse in Erinnerung und erzählt davon, dass „Elli“ früher in Groß-Umstadt ein Wirtshaus mit allem Drum und Dran gemanagt hatte.
Vor dem Standesamt haben sich die Beiden nie offiziell versprochen, in guten und in schlechten Zeiten zusammenzuhalten, doch die Besuche von „Siggi“ sind ein Ausdruck der Liebe, die dem Paar die Kraft gibt, die schwierige Situation so hinzunehmen wie sie ist und den Moment der Begegnung als ein Geschenk zu sehen.


Auch wenn Siegfried Lange „seine Elli“ erst spät nach dem Tod ihres ersten Mannes kennengelernt hat und deswegen keine gemeinsam erlebten Geschichten aus den 1950er oder 60er Jahren erzählen kann, so wirkt die 79-Jährige doch lebendig, wenn Stichworte wie Gasthaus und Familienfeste fallen oder sie Ernst Mosch und seine Musikanten singen hört, „wenn der Mond am Abend still auf die Eger scheint, ist die Welt friedlich im Glück vereint.“ „Das ist ihre Lieblingsmusik“, sagt Siegfried Lange und krabbelt mit seinen Finger sanft unter ihre rechte Hand. Berührungen schaffen auch bei Demenz-Kranken Sicherheit und Vertrauen.


Die Begegnungen sind ein Gewinn für beide. Siegfried Lange kommt seit fünf Jahren in das Haus Dreispitz und hat dort mittlerweile viele Bekannte. Er nimmt an den Festen und Veranstaltungen teil und bringt sich in der Gemeinschaft der Senioren ein, so als würde er schon im Kursana Domizil wohnen. „Ich helfe hier auch gern mal beim Tisch decken“, sagt der Reinheimer und verabschiedet sich mit einem Kuss von ihr. Es ist halb sechs. „Ich muss los. Mein Zug fährt, bis morgen Elli.“
 

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