Eine für alle, alle für eine: Wohnbereichsleiterin Nicole Fiedler zeigte in den schweren Wochen der Coronainfektion im Kursana Domizil heldenhaften Einsatz. Foto: Kursana

 
07.06.2021

"Hut ab vor dem Zusammenhalt"

Als sich im Dezember 2020 im Kursana Domizil Bewohner und Mitarbeiter mit dem Coronavirus infizierten, musste sich Wohnbereichsleiterin Nicole Fiedler plötzlich als einzige gesunde Pflegefachkraft alleine um die infizierten Bewohner kümmern. Dank der Solidarität im Team, der Unterstützung ihrer Familie und eiserner Disziplin hielt sie durch. Die dramatischen Erfahrungen machten sie zur vehementen Impf-Befürworterin.

Pilsting. „Ein Albtraum, schlimmer als ein Albtraum“, kommentiert Nicole Fiedler nüchtern den Ausnahmezustand, der im Kursana Domizil im Dezember 2020 herrschte. Hautnah erlebte sie mit, wie schlimm Bewohner unter der Covid19-Erkrankung litten, und manche starben. Wie Angehörige am Telefon täglich auf positive Nachrichten hofften, und manche zum Abschied nehmen ins Haus kommen mussten. Wie eine Kollegin nach der anderen positiv getestet in Quarantäne ging, und sie als einzige nicht infizierte Pflegefachkraft im Dienst blieb. Unterstützt von engagierten Pflegehelfern und externen Ärzten.

Vor zehn Jahren begann Nicole Fiedler bei Kursana als Frühstückshilfe mit einem Minijob. Regelmäßig hatte sie zuvor ihre Mutter – früher ebenfalls Pflegefachkraft bei Kursana – bei der Arbeit besucht. Als die junge Mutter es nach einer Familienpause schwer hatte, in Teilzeit in ihren früheren Beruf als Bürokauffrau zurückzukehren, bot ihr die damalige Direktorin den Minijob an. „Ich konnte mir das zuerst gar nicht vorstellen“, erzählt Fiedler. „Aber es hat mir dann so viel Spaß gemacht, dass ich recht schnell mit den Stunden hochgegangen bin und als Pflegeassistentin im geschützten Bereich gearbeitet habe“, erinnert sich die 40-Jährige. 2014 begann sie die Ausbildung zur Pflegefachkraft. Nach ihrem Abschluss machte sie einen einjährigen Abstecher in die außerklinische Intensivpflege, kehrte aber zu Kursana zurück und leitet inzwischen einen der drei Wohnbereiche.

Die ersten Bewohner wurden Anfang Dezember im geschützten Wohnbereich für demente Bewohner positiv getestet. „Uns war schnell klar, dass es nicht bei 3-4 Infizierten bleiben wird“, erzählt Fiedler. „Bei an Demenz erkrankten Bewohnern das Hygienekonzept umzusetzen mit Abstandsregeln und Mundschutz – das ist ganz, ganz schwierig.“ Rasch waren alle Bewohner infiziert und einige Bewohner anderer Stationen auch. Gemeinsam wurde sie alle im geschützten Bereich isoliert. „Anfangs dachten wir, es wird schon nicht so schlimm, wie in den Medien berichtet.“ Um mitzuhelfen, wechselte Nicole Fiedler vorübergehend von ihrer Station in den isolierten Wohnbereich. „Doch plötzlich waren alle anderen Fachkräfte dieses Wohnbereiches positiv und in Quarantäne. Alle!“ Und Nicole Fiedler als Fachkraft alleine, mit 28 Bewohnern.

„In solchen Zeiten ist ein funktionierendes Team das A und O“, weiß Fiedler, die in dieser Extremsituation auf die Unterstützung und Einsatzbereitschaft der Pflegehelfer bauen konnte. „Hut ab vor dem Zusammenhalt! Der war wirklich super!“, sagt sie. Sie haben bis zu 12-Stunden-Schichten gearbeitet, übernahmen zusätzliche Dienste, selbst wenn dies bedeutete, nach einem Spätdienst am nächsten Morgen wieder zum Frühdienst zu erscheinen. „Wir haben alle zusammen gestanden!“

Nicole Fiedler arbeitete im Dezember 270 Stunden. Sie musste einen kühlen Kopf und den Überblick bewahren, Prioritäten setzen, Entscheidungen treffen, stark bleiben, wochenlang. „Ständig überlegte ich nur, zu wem gehe ich zuerst? Was war am dringendsten?“ Eine normale, optimale Pflege war nicht mehr möglich unter diesen Umständen. Der Verlauf der Covid19-Infektion sei bei vielen Bewohnern untypisch gewesen, nicht die üblichen Beschwerden wie Fieber, Husten und Atemnot. „Wir hatten viele Bewohner mit Appetitlosigkeit aufgrund des Geschmacksverlustes. Sie waren müde und abgeschlagen, haben viel geschlafen und hatten Kreislaufprobleme.“ Einige hatten große Schmerzen, wenn sie berührt wurden. Das Nötigste zu schaffen hieß, wenigstens Gesicht und Körper kurz waschen, frische Einlagen wechseln, die Bewohner auch mal nur mit Schlafanzug und Decke im Rollstuhl zum Essen zu fahren, damit wenigstens ein bisschen essen und trinken. „Dass die Bewohner nicht dehydrieren, war ein ganz großes Problem.“ Bei Bewohnern, deren Zustand kritisch war und die im Bett lagen, überprüfte sie regelmäßig die Sauerstoffsättigung und die Vitalwerte und war in ständigem Austausch mit den Ärzten. Gleichzeitig riefen immer wieder Angehörige an, um sich nach ihren Liebsten zu erkundigen. Es war kaum möglich, allen gerecht zu werden.

Das gilt auch für ihre Familie. Zwar standen ihre drei Kinder und ihr Lebensgefährte hinter ihr und unterstützten sie. „Aber sie hätten mich in dieser Zeit auch gebraucht“, räumt Nicole Fiedler ein. In der Mittagspause nahm sie sich oft Zeit, um in eine paar Minuten nach Hause zu laufen und für ihre 11 und 14 Jahre alten Kinder zu kochen und nach dem Rechten zu sehen. Beide waren im Homeschooling zuhause. Ihr erwachsener Sohn kam gelegentlich vorbei, um nach seinen Geschwistern zu sehen. Auch wenn ihre Familie die Situation mitgetragen hat, einfach war es nicht. „Meine Kinder hatten Angst, dass ich mich auch infiziere und den Virus mit nach Hause bringe,“ erzählt Fiedler. „Und mein Lebensgefährte hat schon mal gesagt, ‚langsam wird es etwas viel‘. Aber er hat auch eingesehen, dass es eben nicht anders geht, und die Bewohner schließlich versorgt werden müssen.“ Nur ab und zu nahm sie einen freien Tag, um durchzuatmen.

Mit dem Verlauf einer Covid19-Infektion machte Nicole Fiedler in diesen Wochen ihre ganz eigenen Erfahrungen. „Am 10. und 11. Tag ging es einigen teilweise besser. Ich dachte, jetzt sind sie über dem Berg. Doch wenn ich am kommenden Tag zur Arbeit gekommen bin, waren plötzlich die Vitalwerte bei einigen wieder stark verschlechtert, teilweise war kein Schluckreflex mehr vorhanden. Da wusste ich dann, es dauerte nur noch ein oder zwei Tage, oder wenige Stunden. Das erkennen zu können, ist ihr auch im Nachhinein noch unheimlich. „Aber Du konntest nichts mehr machen. Man musste beim Sterben zusehen.“

Wie sie das alles geschafft hat? Sie weiß es nicht. „Du darfst einfach nicht grübeln“, sagt sie zögernd. „Du musst funktionieren. Wie eine Maschine. Du gehst aus der Arbeit raus, die Tür geht zu. Du kommst nach Hause, bist Mama. Du gehst zur Arbeit und bist wieder Pflegefachkraft, die schaut, das alles passt.“ Sie hat in den vergangenen Jahren gelernt, Grenzen zu ziehen. „Anfangs im Beruf habe ich noch viele Themen mit nach Hause genommen und gegrübelt“, sagt sie. „Jetzt mache ich das nicht mehr.“ Deshalb brauche sie auch keinen großen Ausgleich zur Arbeit. Am liebsten verbringe sie Zeit mit ihrer Familie. Drei Nächte im Monat arbeitet sie zusätzlich noch in der außenklinischen Intensivpflege und kümmert sich dabei nur um einen Patienten.

Ihr professionelle Arbeitseinstellung wird von ihren Kollegen sehr geschätzt. „Sie hat eine extrem hohe Einsatzbereitschaft, ist extrem belastbar und weiß sich in Krisensituationen zu helfen“, beschreibt Markus Mayer, Direktor des Kursana Domizils, seine Mitarbeiterin. „Das möchte ich an Ihr nochmals besonders hervorheben“. Dass sie diese extreme Erfahrung verändert hat, glaubt Fiedler nicht. „Vielleicht bin ich etwas gelassener geworden“, sagt sie nachdenklich. „Und ich sehe eher über kleine Dinge hinweg, über die ich mich vor kurzer Zeit noch geärgert hatte.“

Übrigens blieb Nicole Fiedler selbst vom Coronavirus verschont. Sie hat sich aufgrund der  konsequenten Einhaltung der Hygienemaßnahmen nicht infiziert: „Ich war immer in voller Schutzausrüstung, hab nie den Mundschutz abgenommen, doppelt Einweghandschuhe getragen, alles drei Mal desinfiziert und vor allem – mir nie, wirklich nie ins Gesicht gefasst. Vielleicht hatte ich auch einfach nur Glück, da sich meine Kollegen genauso an die Hygieneregeln gehalten haben und sich trotzdem infizierten.“

Als endlich die Impfungen begannen, war sie sofort dabei. „Für mich stand das Impfen außer Frage! Ich hab immer wieder mit den Ärzten gesprochen, die zur Visite bei uns waren. Ich wollte mehrere Meinungen hören, vor allem von Menschen mit medizinischem Hintergrund, nicht von irgendeinem „Influencer“ auf YouTube.“ Sie wollte sich schützen, ihre Familie, die Bewohner. Unermüdlich berichtet sie von ihren dramatischen Erfahrungen mit dem Coronavirus, klärt auf. Auch skeptische Angehörige von Bewohnern hat sie Anfang des Jahres angerufen und für eine Impfung ihrer Schützlinge geworben. Mit Erfolg. Fast 100 Prozent der Bewohner wurden geimpft. Nur eines beschäftigt sie nach wie vor: Die vielen Kollegen und Kolleginnen in der Pflege, deutschlandweit, die sich gegen die Impfung sträuben. „Klar gibt es ein Restrisiko, aber lieber 70 oder 95 Prozent geschützt als 0.“

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